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ETTY HILLESUM
von Barbara Lorenz (BaLo)

Aufsatz für die Anthologie im wort und mensch VERLAG, Waltraud Weiß, Köln, http://www.wortundmensch.de, mit dem Titel "Unsere Vorbilder, von Else Lasker-Schüler bis Durs Grünbein", mit Beiträgen von 75 Autorinnen und Autoren und Bildern von Margret Wohlfarth und Traute Bühler-Kistenberger. Preis DM 25,-. ISBN 3-9806002-1-1

"Das Leben und das Sterben, das Leid und die Freude, die Blasen
an meinen wundgelaufenen Füßen
und der Jasmin hinterm Haus,
die Verfolgungen, die zahllosen Grausamkeiten –
all das ist in mir wie ein einziges starkes Ganzes...
Ich möchte lange leben,
um es später doch noch einmal erklären zu können,
und wenn mir das nicht vergönnt ist, nun,
dann wird ein anderer mein Leben von dort an weiterleben,
wo das meine unterbrochen wurde..."

Esther "Etty" Hillesum, 1914 - 1943

ETTY HILLESUM
in ehrendem, lebendigem Andenken an ein denkendes und wahrhaft gut handelndes Menschenherz

Wir lernen Etty Hillesum kennen, wenn wir Ihre Tagebücher studieren - und nachdenken. Wir werden schnell ergriffen von Ihrem Geist und Leben, von ihrem Schicksal, und was sie daraus machte. Eine Schatztruhe eröffnet sich uns im Taschenbuch "Das denkende Herz", Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943, hrsg. und eingeleitet von J.G. Gaarlandt, rororo, 990-ISBN 3 499 15575 3. Eine Schatztruhe der Menschlichkeit und gleichzeitig ein trauriger Einblick in eines der wehesten Kapitel menschlicher Geschichte. Der Lebensweg der Ettys Hillesum war mutig - und voller Steine, das Ende voller Greuel.

Was geschah Etty Hillesum nach dem 7.9.1943, dem Tag, an dem sie das letzte Blatt ihrer Tagebücher beschrieb? Der Zug, in dem sie und ihre Familie 'transportiert' wurden, ging nach Osten. Das Rote Kreuz legte später Bericht ab von ihrem Tod am 30. November 1943 - in Auschwitz. Niemand von der jüdische Familie kehrte zurück. Man hat sie alle ermordet. Blüten wurden geknickt, die kostbar dufteten und noch ganz reiche Ernte versprachen. Etwas selten Edles wurde zerstört. Millionenfach...

Wer war Etty Hillesum? Eine junge Frau reich an Verstand, fähig großer Gefühle und tiefer Einfühlsamkeit, genial, eine wahre Humanistin, mit weltweisem und humorbegabten Pragmatismus in der Tat, ein Mensch voller Spiritualität, Güte und Selbstkritik, jemand, der sich noch in größter Bedrängnis, ja um so mehr noch zu entfalten wußte. Eine mutige Frau, die sich nicht so sehr wegen irgendwelcher spektakulärer Aktionen auszeichnete, sondern ihrer Zivilcourage und ihrer Mitmenschlichkeit wegen, die sie in ihrem Alltag lebte, der sich täglich mehr in Horror abspielen mußte, in Zeiten als nichts mehr war wie ehedem.

Zeugnis von ihrer Größe und Wärme legen unter anderem ihre Tagebücher ab, aber auch Menschen, die ihr nahestanden oder ihr begegneten.

 

Etty (Esther) Hillesum wurde am 15. Januar 1914 in Middelburg, Holland, geboren. Ebenso wie ihre beiden Brüder, war sie ein hochbegabter junger Mensch. Ihr Bruder Michael war so vielversprechend, daß er nach zeitgenössischer Ansicht zu den bedeutendsten Pianisten in Europa gehört hätte, hätte man ihn nicht umgebracht. Etty selbst bestand ihr Juraexamen mit Auszeichnung und studierte überdies slawische Sprachen. Jene obengenannten Tagebücher, die von ihr geblieben sind, verraten ihr überragendes Talent zu schreiben, klar zu denken, tief zu empfinden, noch tiefer und sehr sinnlich zu lieben. Sie sprechen von einem zugleich glutvollen und ausgesprochen feinfühligen Menschen von außergewöhnlich schnell wachsender Reife, der sich viele Gedanken macht über die Beschaffenheit des Lebens, der Welt, und trotz wachsender Gefahr und zunehmenden Grauen zum Schluß kommt, daß der Mensch liebenswert ist. Hoffnung prägt ihre Tagebucheinträge, auch wenn sie das Unheil, das sie kommen sieht, für unabwendbar hält. Ein erstarkender Glaube macht ihr die Wege leichter. Sie bleibt nicht im brutalen Schrecken stecken, sondern rafft sich stets von neuem auf, - trotz all der gesundheitlichen und seelischen Probleme, die sie hat und die sie hindern und schmerzen, ebenso wie eine große Liebe, die sich nur zum Teil erfüllt. Sie engagiert sich hilfreich und mit tatkräftigem Einsatz bei der kulturellen Abteilung des Jüdischen Rates. Sie setzt es sich zur Aufgabe, zu helfen, wo sie nur kann. Etty ist für die Menschen, die ihren Weg kreuzen, wie zum Beispiel im Lager Westerbog, da, so gut sie nur kann - und sie ist gut! Überlebende der Lager haben später berichtet, daß Etty bis zuletzt eine 'leuchtende Persönlichkeit' gewesen ist.

 

Etty Hillesum schreibt selbst in ihren Tagebüchern (S. 200):

"Es ist kein Dichter in mir, es ist nur ein Teilchen von Gott in mir, das zum Dichter heranwachsen könnte.

In solch einem Lager sollte es einen Dichter geben, der das Leben dort, auch dort, als Dichter erlebt und davon singen kann.

Wenn ich nachts auf meiner Pritsche lag, mitten zwischen leise schnarchenden, laut träumenden, still vor sich hin weinenden und sich wälzenden Frauen und Mädchen, die tagsüber oft sagten: 'Wir wollen nicht denken', 'wir wollen nichts fühlen, sonst werden wir verrückt', dann war ich oft unendlich bewegt, ich lag wach und ließ die Ereignisse, die viel zu vielen Eindrücke eines viel zu langen Tages im Geist an mir vorbeiziehen und dachte: Laß mich dann das denkende Herz dieser Baracke sein."

In diesem von ihr geprägten und von ihr gelebten Begriff vom "denkenden Herzen", offenbart sich ihre gute und reife Seele und Lebenseinstellung. Damit ist alles gesagt: Wer so sein will und lebt, der ist ein wahrer Mensch, wie die Welt in der Tiefe ihrer wunden, kruden Beschaffenheit sie - auch und gerade heute noch - so notwendig braucht, wenn die Dinge besser werden sollen.

 

Wer ist Etty Hillesum - für mich? Sie leuchtet auch für mich. Sie ist ein Vorbild im besten Sinne. Sie lebt als Auftrag und Weltsicht weiter - auch in mir. Das "denkende Herz" ist auch ein Postulat in meinem Dasein, bestimmt maßgeblich mit mein Leben: Daß man mit dem Herzen denken soll, daß Verstand und Mitgefühl einander ergänzen sollen, daß man in dunkler Zeit noch ein Licht sein muß, für sich, um durchzukommen, mit welchem Ausgang auch immer, aber gleichermaßen und vor allem für andere. Eigentlich könnte Etty eine Heilige sein, aber ich ehre und verstehe sie um so mehr, als sie keine ist. In ihrem denkenden Herzen ist sie eine sehr sinnlich liebende und sich sehnende Frau, eben ganz Mensch - mit Seele und Leib! So kommt für mich bei ihr der dritte wichtige Ton im Zusammenspiel zum Erklingen, und ergibt erst die ganze Melodie: Verstand einsetzten, das Herz sprechen und tun lassen, sinnlich sein, lieben! Auch dadurch ist sie für mich eine runde Persönlichkeit. Jemand, den ich gern um mich hätte. Eine Schwester. Aber sie ist tot. Ich kann sie nur durch mein eigenes Denken und Handeln finden. Ich höre ihr Herz schlagen. Es schlägt ringsumher, wo Menschen guten Willens und Tuns sind und in ihrem Sinne wirken.

Warum scheint heute kaum jemand Etty Hillesum zu kennen? Erst 40 Jahre nach ihrer Ermordung werden ihre Tagebücher zugänglich. Immerhin: Sie sind veröffentlicht, ja sogar verfilmt (Titel: "Das gestörte Leben"), und dennoch kennen sie noch viel zu wenige. Ist es, weil die stille aber unbedingt notwendige Stimme des Humanismus und der hoffnungssturen Menschenliebe im hektischen Trubel und unter dem alles überwallenden Schleier der Oberflächlichkeit schier vergraben liegt? Schwer zu hören ist? Liebe ist eben gar nicht so einfach. Denn sie ist Arbeit! Hassen ist auch anstrengend, aber der Teufel ist ein mit allen Tricks lockender Dämon: Ein Hitler en gros, der Verführer schlechthin. Die Ettys dieser Welt halten ihm sture Liebeskraft und Licht entgegen und den Widerstand der praktizierten Güte.

Deshalb denke ich, daß es an der höchsten Zeit ist, daß Ettys Stimme von viel mehr Menschen gehört und verstanden wird. Ich bin der festen Überzeugung, daß eine Stimme wie Ettys helfen kann, die Welt zu retten vor der nächsten Borniertheit und dem nächsten Wahn, wenn wir alle mit ihr einstimmen, und ihre Stimme so verstärkt wird, daß sie wirklich Gehör findet.

In allen Zeiten sind die Ungetüme versucht, immer wieder aus ihren Höhlen hervorzukriechen und Unheil zu stiften. Sanfte, aber starke Menschen wie Etty - oder wir, wenn wir uns trauen - können gemeinsam die Gefahr bannen, wenn wir es nur wollen - und rechtzeitig handeln! Handeln im Sinne des Guten, noch ehe Teufel und Tod sich die Hand reichen können.

Ettys Tagebücher sind fast wie eine Bibel. Ich werde sie immer wieder zur Hand nehmen und sie anderen ans Herz legen: Leute, lest von Etty, lernt von Etty, fühlt wie Etty, helft den Ettys dieser Welt zu überleben und die Welt zu retten, und wenn es 'nur' die Welt in einem einzigen Menschen sei...

Für Etty

Du hast dein Schicksal
angenommen
bist wie eine wandelnde Kerze
auf ganz die gleiche Weise
eine stille, starke
Gefährtin
auf meiner
Reise.


BaLo

 


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